Erste Tour des Projekts “Blick über den Zaun”
Am Sonntag, den 20. August, erlebten wir eine gesellige und lehrreiche Tour im Rahmen des Projekts “Blick über den Zaun”, dank unserer engagierten SeniorTrainerin Hildegard Lehmann.
Lesen Sie selbst die nachfolgenden erfrischenden Berichte unserer Organisatorin und SeniorTrainerin Hildegard Lehmann:
“Ein Tag an der „Nahtstelle“ des Kreises Soest zum Kreis Paderborn
Kennen Sie eine Kunstdüngerkirche? Nie gehört, was soll das sein? Eine Kirche?
Es gibt sie, im Kreis Soest, ganz am östlichen Rand. Sie steht in Rüthen-Kellinghausen, einem Dorf mit weniger als 100 Bewohnern.
Im Kurs zum SeniorTrainer im März 2023 stellen wir unsere Vorstellungen vor und ich erzähle, daß mich die Besonderheiten in unseren Dörfern und Kleinstädten in und um den Kreis Soest interessieren und ich schon mit einer kleinen Seniorengruppe in Östinghausen im Renaissance-Heimathaus war.
Eine Teilnehmerin brachte mir die Festschrift zum 100. Geburtstag der Kapelle in Rüthen-Kellinghausen mit. Eine „Kunstdüngerkirche“!
Meine geweckte Neugier ließ mich zum Lexikon greifen: Diese Bezeichnung gibt es in keinem kunsthistorischen Nachschlagewerk. Was wird hier zusammengefügt? Eine barocke Kapelle – Neobarock von 1910! Wer kann mir die Hintergründe erklären?
Und interessiert es auch weitere Menschen?
Am heißen 20. August 2023 finden sich die angemeldeten 24 Personen mit ihren Picknickkörben im Kellinghäuschen, dem Dorfgemeindehaus neben der Kapelle ein. Nicht unbeachtet, 3 ältere Herren im Nachbargarten kommentieren die vorfahrenden Autos. Wir werden erwartet, denn die Architektin und Denkmalpflegerin Gertrud Kersting wohnt im Ort, vermittelte. Frau Ising vom gegenüberliegenden Bauernhof hat schon die Kaffeemaschine mit 50 Tassen Kaffee eingeschaltet.
Hell verputztes Kirchlein mit Sandsteinquadern und einem eleganten Schieferdach strahlt in der Sonne. Klare Barockformen, helle zarte Farbtöne im Innenraum der Saalkirche. Man betritt sie unterhalb der Orgelempore, blickt durch den quadratischen Zentralraum auf die halbrunde Apsis mit dem Altarbild der Hl Maria Magdalena.
Alle warten gespannt auf die Auflösung: Kunstdüngerkirche ! Frau Kersting berichtet: „Seit der Mitte des 19. Jahrhundert entstanden viele Kirchenneubauten in historischen Stilen. Der Hintergrund dafür war das Bevölkerungswachstum. Professor Mainzer nennt diese Kirchen auch sehr treffend „Kunstdüngerkirchen“. Aufgrund der Erfindung des Kunstdüngers stiegen die Einkünfte der Bauern und einen Teil ihres Reichtums spendeten sie für den Bau neuer und größerer Kirchen…“ (Sankt Maria Magdalena Kellinghausen 1911-2011)
Erklären sich so auch die uns heute oft überdimensioniert wirkenden Kirchen in vielen Bördedörfern?
Jetzt ist mir auch deutlich, warum fast alle größeren Gehöfte in der Soester Börde und etliche am Haarstrang riesige rote Stallbauten und Scheunen, kaum Fachwerkwohnhäuser, sondern große Ziegelbauten -einige sogar mit Säulchen und Balkon – finanzieren konnten. Viele Dörfer hatten eigene Ziegeleien; in meiner Schulzeit fuhr ich in Hattrop täglich an der Ziegelei vorbei. Heute ist sie verschwunden und auf dem Platz wird Kaminholz verkauft, noch!
Auf noch viele Einzelheiten weist die Denkmalpflegerin hin und beantwortet interessierende Nachfragen. Verabschiedet durch den Türgriff in Form eines Fisches ziehen wir diskutierend zum Picknick-Buffet ins Kellinghäuschen. Jeder hat dazu beigetragen und fühlt sich eingeladen zuzugreifen. So vollzieht sich auch das Aufräumen fast von selbst -und bis zur Weiterfahrt nach Büren sitzen wir in gesamtgesprächiger Runde und genießen das gesellige Miteinander.”
Soest, 21. 08. 2023 Hildegard Lehmann
Bohr- und Steinmühle in Büren
Was soll eine Bohrmühle bohren? Haben wir Öl im Untergrund? Eine Steinmühle wird Steine zermahlen, aber eine Bohr-Mühle?
Vom Picknick im Kellinghäuschen gestärkt fahren wir auf den Auenparkplatz an der Alme in Büren. Er liegt für alle angenehm eben zu den Mühlen. Gespannt blicken wir auf Herrn Lemm, der uns am Gartentörchen der Bohrmühle empfängt.
Neben der stattlichen Steinmühle erwartet uns eine eher hutzelige Scheune mit doppelter Brettertür. Eingespannt auf einem lafettenartigen kräftigen Holzgestell liegt der Baumstamm. Wasserplätschern hören wir und sehen durch das kleine Fenster die benachbarte Steinmühle.
Gesundes Wasser ist das Problem auch in langer Vorzeit. Die Alme fließt im Tal durch Weiden und Felder, ihr Wasser mußte täglich von den Mägden und Knechten durch das Mühlentor in die Stadt hinaufgetragen werden. Frisches Trinkwasser aber fehlte in der Stadt auf dem hohen Bergsporn.
Der menschlichen Fantasie oblag immer schon, günstigste und einfachste Lösungen für tägliche Aufgaben zu finden. Ein steiniger Untergrund verhinderte eine Brunnenbohrung, eine Quelle liegt fast 2 km entfernt. Teure Metalle? Ungesunde Rückstände und Ablagerungen?
Wurzeln ernähren Baumkronen – gerade gewachsene Holz ohne Astgabelungen war rundum in den Wäldern vorhanden. Bis etwa 1,50 m konnte man mit mehreren immer breiteren und längerstieligeren geschmiedeten Bohrlöffeln tiefer und tiefer in den Buchenstamm eindringen und eine ca 7 cm breite Röhre langsam „herauslöffeln“. Das geschah über ein hölzernes Getriebe, das über Wasserkraft angetrieben wurde. Und wenn man den Stamm drehte und die andere Seite bearbeitete, hatte man gar eine 3,00 m Röhre hergestellt ! Eine kräfteraubende Schufterei für Böttcher und Wagner, denen diese Arbeit zugeteilt wurde. Meine Vorstellung: Könnte ich diesen Vorgang vielleicht an einer Schlangengurke probieren?
Holzleitungen waren bekannt und schon lange nutzte man sie.1568 wird von ihnen in Büren erstmalig berichtet. Und dann wurden über 500 Röhren nötig, verlegt bis zu den 5 Sammelstellen , den „Kümpen“ in der Stadt. Meist oberirdisch verlegt, reizten sie wohl auch zum Schabernack: Böse Buben bohrten sie an und freuten sich über den kräftigen Strahl –Gregor Lemm berichtet in seinem Beitrag „Von Piepen, Kümpen und Sissemännekes – Bürens hölzerne Lebensadern“ von der Freude, aber auch dem stets bereiten Reparatureinsatz der „Wassermeister“, mit Holzstiften und Hammer diese „Sissemännekes“ zu beenden. Reparaturen und Ersatz, die Röhren wurden gern geklaut und so letztendlich dort gelagert, wo der liebe Gott mit aufpaßte: In der Kirche!
Lemm berichtet: „..die Rohre (wurden) vorne angespitzt und am Ende konisch ausgehöhlt, entrindet und dann zur Baustelle transportiert. Dort wurden die Rohre mit „Werg“ und „Pech“ oder Talg ineinandergeschoben und damit abgedichtet.“ Bis zu 60 Jahren hielten sie durch, länger fast als ein durchschnittliches Menschenleben damals dauerte, leiteten diese Rohre das lebenswichtige reine Trinkwasser (und nötigenfalls Löschwasser) zu den 5 Schöpfstellen.
Fast kann man das „Geschnatter“ der Mägde und Knechte an diesen sozialen Treffpunkten hören, denn die Standorte der „Kümpe“ sind im Stadtbild noch heute sichtbar.
Die Mittelmühle
Warum heißt sie so? Es gab noch mehrere Wassermühlen an Alme und Afte.
Hier wurde der Almearm gestaut und spendete die Wasserkraft für beide Mühlen, die Bohr- und die Mittel=Steinmühle. Der Müller lebte mit seiner Familie in der Hälfte des Mühlenbaus und brauchte nur durch die Tür zum Arbeitsplatz zu gehen.
Meterdicke Wände, winzige Zimmer – nein Kammern! Nur das nötigste hatte Platz: Zur letzten Zuflucht bei feindlicher Belagerung stand das kurze schmale Bett des Müllerpaares fast vor der Eichentür, die mit einem Balken verrammelt werden konnte. Fluchtmöglichkeit gab es über Leiter und Luke auf den Dachboden – und Hilfe durch das Blasen einer „Tröte“, deren durchdringender Hilferuf bis zu den Stadtwachen schallen sollte. Die Mühlen liegen im Außenbereich vor der schützenden Stadtmauer.
Viele Gerätschaften kennen wir Besucher heute noch aus unseren Kindertagen und so klingt manches sehr freudig: “Och, kuck mal, das hatten wir auch, ,,,,/ wie in Omas Keller…/ sieh mal, der Herd, da hatten wir…“ Wie viele Menschen sich diese niedrigen Kammern teilten, die Magd schlief auf der ausziehbaren Küchenbank. Intimsphäre- gleich null.
Und dann Besuch in der Neuzeit! Wie hat der Mühlenverein das geschafft: elegante moderne Toiletten, großräumig und sogar für Damen und Herren, im Vorraum bietet die Tiefe der Außenwand genügend Platz für eine Wickelauflage für heutige Babys. Wie würde die Müllerin staunen!
Und wir staunen über die technischen Finessen der alten Zeiten. Im Gewirr von Balken und Stützen
ist den logischen Arbeitsabläufen ihr Platz zugewiesen. Unter der Wiederverwendung alter
Materialien entstanden Karren, Schütten, Kästen, Sortiersiebe, Gebläse mit Stoffverspannungen … Auch die Getreidemühle wurde umgenutzt zur Steinmühle, die so dicke Brocken in allen Korngrößen bis zu Staub zermahlen konnte, so fein, daß er in der Farbherstellung genutzt wurde.
Bei dieser Arbeit konnten die Müller nicht alt werden, taub waren sie sicher sehr früh und körperliche Arbeitssicherheit gab es nicht. Ich stelle mir einen Müller vor: gedrungen, kräftig, gebeugt, hustend und mit tränenden und geröteten Augen, doch mit einem wachen Blick auf Balken und Verstrebungen, alle Seile, Förderräder, Getriebe, Mahlsteine, Verschlußklappen und sechseckige Trommeln…. .
Die Müller lösten ihre sich stets verändernden Aufgaben mit unglaublicher Entwicklungsfähigkeit.
Wir klettern eine schmalstufige Leiter/Treppe hoch und landen unter dem hohen Spitzdach. Baumstämme als Sitzgelegenheiten sind uns sehr willkommen: Wir sind im neuzeitlichen Kursraum für Kindergruppen. „Vom Korn zum Brot“ und andere handwerkliche Fähigkeiten können vermittelt werden. Vielleicht auch ein Gefühl für Lösungsanstrengung, die Spaß macht und sich lohnt.
Wir sind beeindruckt von der Leistung in den Jahrhunderten, dankbar – und genießen unsere Jetztzeit.
Soest, den 23.08.2023 Hildegard Lehmann
Die Jesuitenkirche Maria Immaculata in Büren
Wie kommt Büren, eine kleine Stadt mit Tradition und langer Geschichte zu so außergewöhnlichen Bauwerken ? Schloßartiges Jesuitenkolleg und hochbarocke fast französisch-italienisch wirkender Barockkirche?
Waren die Jesuiten in Büren nicht Mönche, die keinen eigenen Besitz haben durften? Das gilt aber nicht für ihre Vereinigung! Sie bauten nach dem Willen und von dem Erbe des letzten Familienmitglieds derer „von Büren“, Moritz von Büren, ihre Jesuitenniederlassung in Büren fast schloßähnlich auf dem Grundstück der abgerissenen Burg.
Im Zeitalter der Reformation 1520/1530 zerstritten auch die evangelischen Anhänger sich zusätzlich in lutherische und calvinistische Glaubensrichtungen. Die enge Familie des regierenden Edelherren von Büren war calvinistisch, und dann starb er, der Vater des 6 jährigen Erben Moritz, der unbedingt calvinistisch erzogen werden sollte. Das Machtvakuum und die Hilflosigkeit der Mutter nutzte der Bischof von Paderborn und sie geriet immer mehr in seine Abhängigkeit und konvertierte schließlich zum katholischen Glauben. Moritz erhielt neue katholische Vormünder und die Paderborner Jesuiten übernahmen die Erziehung des inzwischen Neunjährigen.
Die Strategie der Erzieher ging auf. So wird berichtet; “..,dass Moritz bereits zu diesem frühen Zeitpunkt den Entschluß gefaßt haben soll, sich der Gesellschaft Jesu anzuschließen.“ Er stand immer weiter unter jesuitischer Führung und Überwachung. In Rom als 21 jähriger hatte er um Aufnahme in den Orden gebeten – und wurde abgelehnt. Langfristig “.. ging es ihr (der Ordensführung) eindeutig darum, sich die Besitztümer des Edelherren zu sichern“. (Wilhelm Grabe,“ In seinen Wünschen immer auf die Gesellschaft Jesu ausgerichtet“Moritz von Büren (1604 – 1661).
Mit den erbberechtigten Schwestern und ihren Familien und den Erzbischöfen von Paderborn gab es jahrzehntelange Rechtsstreitigkeiten. Das verzögerte die Vollstreckung des Testaments erheblich, Moritz war inzwischen über 50 Jahre tot. Endlich um 1714 sollte der Architekt Johann Conrad Schlaun an den Plänen zum Kolleg und der Kirche mitgewirkt haben. So erinnert das heute als Gymnasium genutzte Kolleg (erbaut zwischen 1717-1732) auch an Schloß Nordkirchen. Nur durch einen schmalen Weg getrennt wurde ca 90 Jahre nach Moritz von Bürens Tod, jetzt Pater Mauritius, die Pflicht aus seinem Erbe- der Kirchenbau umgesetzt.
Frau Ising erwartet uns an der Kirchenpforte. In dem Zentralbau ergeben sich durch Ost- und West- und Querarme große räumliche Weite. Auch die mächtigen Vierungspfeiler wirken leichter durch Abschrägungen und Gliederungen. Helle Verglasung der Fenster läßt viel Licht herein, das von pudrig gefärbten Weißtönen in rose`, hellblau und hellgrün und hellgrau und hellgelb an den Säulen und Wandflächen aufgenommen wird. Man fühlt sich wohl in dieser unaufdringlichen Abfolge der Tönungen.
Das Marienleben in den Gewölben ist farbig dargestellt. Die konsequent gemalte Scheinarchitektur
hebt die Gewölbe und zieht den Blick in die Höhe – in den Himmel. Meister der Stuckatur erschaffen barockbewegte Apostel, Evangelisten, Putten, ovale Bildrahmungen, aufwändige Kartuschen, Kissenstrukturen, Ranken und -…doch unaufdringlich, zum Teil in Grisaillemalerei und sparsamen Goldeinsatz.
Das Kircheninnere schlägt eine weitere Lehrbuchseite auf ?
Nicht groß verziehrt aber deutlich wird in vier langgestreckten schlichten Kartuschen auf die Hierarchie der katholischen Kirche verwiesen; Tiara des Papstes, Mitra des Bischofs, Kardinalshut des Kardinals und Birett des Priesters und mit ihren jeweiligen Gerätschaften versehen. Jeder kannte seinen Platz und das Volk steht wie wir andächtig oder bewundernd im Mittelraum.
Moritz von Büren hatte seinen Stammbaum „ein wenig aufgehübscht“: jetzt gehören Heilige und Selige dazu. Hatte früher ein Humanist etwas nachgeholfen, “vervollständigten“ auch die Jesuiten den Ahnenreigen um den Hl. Meinolphus.
Das Altarbild zeigt die gen Himmel fahrende Maria Immaculata, (so heißt auch die Kirche; die unbefleckte Empfängnis Mariens). Natürlich wird sie von den 4 Heiligen des Jesuitenordens begleitet, darunter ihr Gründer Ignatius von Loyola mit Buch und Feder. Das Kranzgesims ist für die Himmelfahrt gesprengt und im oberen Bild empfängt Christus und Gottvater die Himmelskönigin Maria. In der dritten Ebene schließt die Taube als Darstellung des Heiligen Geistes den mächtigen Altaraufbau ab.
Auf viele weitere Besonderheiten wies Frau Ising, die Kirchenführerin in ihrem fesselnden und überzeugenden Vortrag hin. Besonders ist mir der Stuhl des zelebrierenden Priesters in Erinnerung. Unter der Stickerei des Jesuitenmonogramms deuten 3 Nägel auf die Gelübde der Mönche hin: Armut, Keuschheit, Gehorsam. Wie mögen sie als „Nägel“ dargestellt auf ihnen sitzen?
Eine geschwungene Scheintür an der Stirnseite des Chorseitenschiffes zeigt in hervorragenden Hozintarsienarbeiten Szenen aus der Bibel u.a. Heimkehr des verlorenen Sohnes. Eine Scheintür -und sie öffnete sich plötzlich – eine überraschte Küsterin lächelte uns an.
Die Kirche ist ein Erlebnis und Frau Ising hat es geschafft, uns in die Choreographie des Baus und vielleicht den Absichten der Jesuiten und der Baumeister hineinspüren zu lassen. Auch sollte diese prachtvolle Kirche ein Gegengewicht bilden zur Strenge der im Umfeld herrschenden evangelischen Glaubensrichtung?
Dieser Kirchenbesuch bildet den Abschluß unseres Blicks über den Zaun in den Kreis Paderborn und nach den Rückmeldungen der Teilnehmer waren alle drei Teile unerwartet denkanstoßend – und wir voller neuer Anregungen.
Soest, den 26.08 2023 Hildegard Lehmann